Wilhelm Busch
Wilhelm Busch war Pfarrer in Essen (* 27. März 1897 in Elberfeld, heute Wuppertal; † 20. Juni 1966 in Lübeck)
Geht es auch ohne Jesus?
Ich möchte dazu eine Geschichte aus der Bibel erzählen die mir ganz besonders groß erscheint. Der Herr Jesus hatte zu vielen Menschen gesprochen. Und dann sagte er ein unsagbar hartes Wort: So, wie ihr seid, und wenn ihr noch so christlich angestrichen seid, könnt ihr nicht ins Reich Gottes kommen.
Es ist dieselbe Linie wie: Es muß ein Mensch von neuem geboren werden.[1]
Nun stehen hinten in der Reihe ein paar junge Burschen auf und sagen: „Das geht zu weit”; sie drehen sich um und gehen. Und drei Freunde gehen mit. Das sehen einige Mädchen, die sagen: „Die Jungen gehen, dann gehen wir auch.“ Eine alte Oma sieht das und denkt: „Es scheint zu Ende zu sein“, und sie humpelt davon. in Die Bibel erzählt das nicht so ausführlich, sie sagt: Die Leute gehen weg. Auf einmal ist nur noch Jesus mit seinen zwölf Jüngern übrig. Ich würde erwarten, daß Jesus jetzt die Jünger beschwört: „Bleibt ihr bitte noch hier: das war Treibholz, aber ihr seid nicht so.” Doch was tut mein Herr? Er sieht, wie die Jünger den Massen nachschauen, und dann sagt er: „Ihr dürft auch gehen. Wollt ihr nicht auch weggehen? Bitte!“[2]
Es gibt im Reich Gottes keinen Zwang. Wer in die Hölle laufen will, darf das. Und wer die Gebote Gottes mit Füßen treten will — bitte, es hindert dich niemand. Wenn du den Heiland nicht annehmen willst, darfst du ohne ihn leben. Aber mach dir auch klar, daß du in Ewigkeit ohne ihn sein wirst. Und das ist die Hölle.
Für die Jünger stand damals alles auf des Messers Schneide. Petrus kalkuliert: Wohin ... ins Vergnügen? oder der Pflicht leben? ... oder ... und dann sieht er seinen Herrn an und es fährt ihm heraus: „Herr, wohin sollen wir gehen? Es lohnt sich ja gar kein Weg ohne dich. Du hast Worte des ewigen Lebens und wir haben geglaubt und erkannt, daß du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.”[3]
Die Massen leben ohne Jesus. Das geht offenbar. Petrus sagt: Es geht nicht. Die Massen werden durch Jesus immer wieder einmal beunruhigt. Es ist ja augenblicklich merkwürdig, daß Illustrierte, Fernsehen und Rundfunk dauernd von Jesus reden. Diskussionen über Jesus. Das ist Mode. Kürzlich sagte mir ein Kellner in einem Restaurant: „Wissen Sie, ich glaube ja nichts; aber im ‚Spiegel‘ habe ich über Jesus gelesen, das war sehr interessant.” Da antwortete ich: „Wenn ich mich über Jesus orientieren wollte, würde ich nicht den ‚Spiegel‘ fragen und nicht sonst eine Illustrierte, sondern ich würde das Neue Testament lesen. Ich würde an die Quelle gehen.”
Liebe Freunde, man kann eine Zeitlang vielleicht ganz gut ohne Jesus auskommen. Bis zu dem Augenblick, wo unser Leben an die Abgründe kommt. Wehe, wer dann keinen Heiland hat. Wer sagt, „es geht auch ohne Jesus” oder so tut, der hat keine Ahnung, welche Abgründe das Leben hat. Alle modernen Weltanschauungen sind gut bei Sonnenschein. Aber wenn Sturm kommt, wenn Abgründe sich auftun, dann ist es schrecklich, Jesus nicht zu kennen.
Wozu bin ich eigentlich auf der Welt?
Ich möchte euch ein paar Abgründe zeigen. Ein Abgrund tut sich zum Beispiel vor uns auf, wenn uns die Frage aufgeht: Wozu bin ich eigentlich auf der Welt? Goethe hat an diese Frage getippt, als er in seinem Alter sagte: „Wenn ich die Minuten zusammenzähle, in denen ich wirkliches Behagen gespürt habe“ — er meint wirklich tiefes Glück —, „dann kommen nicht drei Tage zusammen.“ Da rührt er an die Frage: Wozu bin ich eigentlich da? Für mein Volk? Oder für meine Arbeit?
Du kannst ohne Jesus leben, wenn du wie ein Tier dahinlebst und arbeitest und dir keine Gedanken machst, wozu du da bist. Aber in dem Moment, wo du fragst: Wozu bin ich da? kann dir keiner Antwort geben als der Sohn des lebendigen Gottes. Die Bibel sagt uns eindeutig: Wir sind auf der Welt, um Kinder des lebendigen Gottes zu werden. Du wirst es nur durch den, der mit seinem Blut dich mit Gott versöhnt hat; der am Kreuz hängt, um das Lösegeld zu bezahlen; der die Dämonen überwindet, damit du ein Kind Gottes wirst. Nur Jesus macht dich zum Kind Gottes. Dein Leben bleibt sinnlos, solange du nicht ein Kind des lebendigen Gottes geworden bist.
Oder ich will einen anderen Abgrund nennen. Da muß ich leider ein Fremdwort gebrauchen. Es gibt im Griechischen ein Wort, das spielt in den griechischen Tragödien eine große Rolle. Dieses Wort heißt „moira“, man kann es eigentlich gar nicht übersetzen. Die „moira” ist das schreckliche Geschick, das über einen Menschen hereinrollt und den stärksten zerbricht.
Als ich heiratete, sagte ich zu meiner jungen Frau: „Du, wir wollen sechs Söhne haben; die sollen Posaunen spielen!“ Ich stelle mir’s so herrlich vor: einen Posaunenchor im eigenen Haus. Mein Bruder hat’s dann gehabt. Ich hatte nur zwei Söhne. Und beide sind schrecklich umgekommen. Ich komme da nie drüber weg. An der Stelle habe ich’s gespürt, was die Griechen meinen: es kann ein Geschick geben, wo es ganz dunkel um einen wird, wo man die Hand Gottes gar nicht mehr sieht; wo der Mensch in Not kommt: Wie kann Gott das tun? Wer dann den Herrn Jesus nicht hat, dem fehlt jeder Halt.
Ich will euch ein ganz modernes Beispiel berichten, und zwar von dem amerikanischen Schriftsteller Ernest Hemingway. Hemingway, das war so ein Urkerl, so wie wir sein möchten. Groß wie ein Jäger, dreimal mit dem Flugzeug abgestürzt und immer noch mit dem Leben davongekommen; ein Seemann und Großverdiener mit einem Haus in Florida, in Miami, in Kalifornien usw. In seinen Büchern hat er auch mit Vorliebe „richtige” Männer geschildert; Stierkämpfer zum Beispiel, die mit dem Tode spielen, das war sein Ideal. Oder so ein Seemann, der sich mitten im tosenden Ozean noch wohl fühlt. Hemingway fürchtete keinen Gott und keinen Teufel; für ihn gab’s keine Gesetze in punkto Eros und Sexus, er nahm, was er wollte. Eines Tages eröffnete der Arzt diesem Mann, daß er Krebs habe. Jetzt konnte der Urkerl zeigen, was es ist, gegen die „moira“, gegen das Geschick sich zu stemmen. Aber er konnte es nicht. Er nahm das Jagdgewehr und erschoß sich. Es hat mich selten etwas so erschüttert wie der Selbstmord von Hemingway. Da geht einem mit einemmal auf: man kann ein Kerl sein, aber es gibt Abgründe, die wir nicht mehr überspringen können. Da zerbricht der Mensch. Es sei denn, er kann auf den Mann am Kreuz sehen und sagen: Du hast ein Lösegeld für mich Sünder bezahlt, durch dich bin ich losgekauft für Gott, ich bin in der Finsternis geborgen in den Händen Gottes.
Genau in der gleichen Zeit starb meine alte Mutter an Krebs. Sie hatte Zungenkrebs, wobei die Oberlippe abfiel. Meine Schwester pflegte sie. Als ich sie besuchte — sie konnte nicht mehr sprechen — faltete Mutter die Hände und zeigte nach oben: Ich bin geborgen!
Du kannst groß reden: es geht auch ohne Jesus. Warte nur ab, wenn’s über dich hereinbricht; dann werden dir die großen Worte vergehen. Im Dritten Reich habe ich viele singen hören: „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern....“ Als dann alle unsere Städte zusammenbrannten und die Leute im Keller umkamen, da sah ich auch die Seeleute erschüttert. Da verging ihnen das Singen.
Ja, es geht ohne Jesus, solange die Sonne scheint und der Weg glatt ist.
Laßt mich noch einen weiteren Abgrund aufzeigen:
=== Als Offizier im 1. Weltkrieg ===[4]
Seht, ich war junger Offizier im Ersten Weltkrieg. Ich brauchte keinen Jesus. Ich war ein guter Reiter und hatte mit 18 Jahren die Führung einer Batterie. Da brauchte ich doch Jesus nicht. Wenn der Militärpfarrer kam, dann lächelten wir: Sündenabwehrkanone und so. Ich war fertig mit Gott. Freilich, der Krieg war schrecklich; aber für einen jungen Mann war das auch ein Abenteuer. Und hinter der Front war’s erst recht ein Abenteuer.
Aber dann kam die Stunde, die ich nie vergesse, wo sich der Abgrund vor mir auftat. Das war, als neben mir ein Freund, dem ich noch etwas sagen wollte, plötzlich tot vom Pferd fiel. Ein Splitter hatte ihn getroffen — ich hatte es nicht einmal gemerkt. Wir standen eigentlich in Bereitschaft, wir sollten erst eingesetzt werden. Es schoß bei uns nur ab und zu. Das nahmen wir gar nicht ernst. Und jetzt war mein Freund tot. Da überfiel mich plötzlich die Frage: „Wenn du jetzt den nächsten Schuß kriegst — wo bist du dann?” Ich wußte auf einmal: dann stehe ich vor Gott. Da brauchte ich keinen Pfarrer dazu. Ich war ganz allein. Und ich dachte: „Kann ich denn vor Gott stehen?“ Ich weiß noch, wie ich anfing aufzuzählen: Ich bin doch tapfer und kämpfe für mein Vaterland, ich bin nicht schlechter als andere ... und es war, als wenn Gott mir entgegendonnerte: „Und deine Sünden?!” Da tat sich der Abgrund auf, als ich plötzlich wußte: Ich kann mit meinen Sünden nicht vor Gott bestehen; wenn ich jetzt einen Schuß kriege, dann komme ich in die Hölle.
Durch diese Stunde müssen wir alle einmal gehen. Da ist der Abgrund.
Ich stieg auf mein Pferd, faltete die Hände auf dem Sattelknopf und betete zum erstenmal: „Lieber Gott, laß mich nicht fallen, ehe ich...“ Ja, ich wußte nicht was. Ich ging damals zu einem Prediger, zum Militärpfarrer, doch der verstand es gar nicht. Er meinte: „Herr Leutnant, wer fürs Vaterland stirbt, der stirbt wohl.“ Ich sagte: „Sie wissen ja auch nicht, wie man selig werden kann“ und ging wieder weg. Ich stand mutterseelenallein. Da hab ich gefragt: „Wie macht man das? Wie komme ich mit Gott in Ordnung?“ Ein Vierteljahr lang habe ich die Hölle durchwandert. Ich wußte, wenn ich einen Schuß kriege, dann verwirft mich Gott mit Recht. Dann kann ich nie mehr zu ihm kommen, nie mehr, nie mehr! Da hatte ich zum erstenmal Angst in meinem Leben.
Dann kamen wir in Ruhestellung. Und ehe es wieder an die Front ging, sagte ich zu meinem Burschen, wir wollten mal meinen Koffer aufräumen. Das war ein großer Koffer, der immer bei der Bagage blieb. Wir kippten ihn einfach um, und da lag obendrauf ein schwarzes Büchlein, eine Bibel. Die hatte meine Mutter beim letzten Urlaub in den Koffer geschmuggelt. Leise sagte ich meinem Burschen, er solle alleine weiterpacken. Ich nahm das Büchlein — ich wußte nicht, wo anfangen, wo aufhören — und blätterte darin. Da blieb mein Auge an einem Wort hängen: „Jesus Christus ist gekommen in die Welt, die Sünder selig zu machen.”[5] Diese Stunde vergesse ich nie. Es war, als wenn’s vor mir einschlüge: Sünder, das bin ich! Selig werden — ich wußte nicht genau, was das ist —, aber das wollte ich. Und wenn Jesus Christus Sünder selig machte, mußte ich Jesus finden!
Aber wie macht man das? Weit und breit war kein Mensch, der mir das sagen konnte. Doch der Abgrund war aufgetan. Ich hatte Angst, in die Hölle zu kommen, schreckliche Angst.
Habt ihr das schon einmal gehabt? Wenn die Leute heute lauter Problematik aus dem Christentum machen, dann sage ich: ihr habt noch nie den Schrecken Gottes gefühlt.
Ich mußte Jesus haben. Wir waren damals auf dem Rückmarsch. Die Division hielt wegen Verkehrsstauung. Da stand ein zerschossenes Bauernhaus am Wege. Ich ging darauf zu, ob ich irgendwo noch einen Stuhl fände, um mich ein Weilchen zu setzen. Und in dem Augenblick ging es mir auf wie ein ganz helles Licht: Jesus lebt ja! Ich kann doch mit einem Lebenden sprechen. Wenn Jesus lebt, dann brauche ich ihm nur zu sagen, daß ich gerne selig werden möchte.
Bis dahin war das alles nur Theorie. Aber nun: Ich stürzte in das Bauernhaus — es war verlassen —, riegelte von innen die Tür zu, fiel auf meine Knie und betete zum erstenmal in meinem Leben richtig. Etwa so: „Herr Jesus, ich hab begriffen, daß du jetzt da bist. Du bist der einzige, der Sünder selig macht. Ich bin ein Sünder; ich möchte selig werden. Hier, jetzt, heute, ich möchte ein Kind Gottes werden, Herr Jesus, ich gebe mich dir.” Ich erinnere mich, wie ich sagte: „Herr Jesus, ich kann dir nichts versprechen, ich habe einen sehr labilen Charakter. Aber hier bin ich.“
Von dem Moment an habe ich einen Herrn gehabt. Und er hat angefangen, mich zu führen, Ich wollte nie Pastor werden. Er hat mich geführt, daß ich Pastor wurde.
Ihr lieben Freunde: Geht es ohne Jesus? Es geht ohne ihn, solange sich die Abgründe nicht auftun. Aber wenn der Abgrund deiner eigenen Schuld und des Zornes Gottes sich auftut und du siehst: Ich bin ein verlorener Mensch, dann ist Jesus die einzige Hilfe.
Wenn hier Leute sind, die sagen: Ich will nicht mehr länger ohne Jesus leben, ich will es nicht riskieren, ich kann es gar nicht riskieren... dann fange an, jeden Tag eine Viertelstunde im Neuen Testament zu lesen; nimm zuerst das Johannesevangelium vor. Falte die Hände — Jesus lebt ja! —, sage ihm, was du auf dem Herzen hast. Und suche Leute, die unter allen Umständen den selben Weg gehen. Das sind die drei wichtigen G: Gebet — Gemeinschaft — Gottes Wort.
Geht es auch ohne Jesus? Für ein 08/15-Leben geht es. Und wenn du Glück hast, kannst du das ganze Leben wandern, ohne daß sich Abgründe auftun. Dann hast du gelebt wie ein anständiges Pferd und fährst in die Hölle. Doch wenn Gott dir gnädig ist, dann lernst du das Leben so kennen, wie es ist, daß die Abgründe sich auftun, daß dir deine Verlorenheit aufgeht, daß du nach dem Sinn des Lebens fragen mußt, daß dir plötzlich die Schwere des Sterbens aufgeht. Und dann weißt du: Es geht nicht ohne Jesus!
(Ansprache bei der Hauptversammlung der CVJM-Ostertagung 1966 in Bad Windsheim.)[6]
Einzelnachweise
- ↑ Jesus in Joh 3,5
- ↑ Joh 6,67
- ↑ Joh 6,68-69
- ↑ Dieser Abschnitt ist als Aufnahme hier: Youtube: Ein Abgrund
- ↑ Lukas 19,10; 1.Timotheus 1,15
- ↑ Wilhelm Busch, Gottes Auserwählte, Ansprachen aus den Jahren 1965/1966, Hänssler Verlag, Neuhausen / Stuttgart, ISBN 3 921113 229, S. 58-64